Das "ernst". Restaurant Berlin - 23. Dezember 2022

Das „ernst“.

Restaurant. Berlin - 23. Dezember 2022

Essay von Dr. Andrea Sibylle Claussen, 25. Dezember 2022

 

In der ZEIT las ich einen Artikel über das „ernst“ in Berlin. Ein Restaurant der besonderen Art. Ich dachte mir, dass dieser Restaurantbesuch auch eine Art „wilde Erfahrung“ sein könnte. Mal anders. Diesmal in der Großstadt, alle Sinne voll eingeschaltet, benötigt für das Erleben. So, wie ich es sonst gemeinsam mit meinen Teilnehmern in der Wildnis erfahre. Das geht auch, wirklich, ganz im Ernst!

Das ernst hat einen Stern. Wofür genau habe ich vergessen. Ich habe es auch nicht gegoogelt. Es ist mir egal. Ich war vielmehr fasziniert von der Geschichte des jungen Gründer-Kochs, ausgebildet in Japan. Seine Geschichte hat mich an meine prägenden Lehrjahre in Japan erinnert. Unmittelbar nach dem Lesen des Artikels wollte ich sofort buchen. Ich musste sozusagen. Natürlich war das ernst über Monate ausgebucht. Nur noch am 23. Dezember um 18:00 Uhr waren noch zwei Plätze frei. Ideal, dachte ich: ein besonderes Weihnachten. Why not. Gedacht, gebucht mit wenigen Klicks. Easy, überwiesen. Done.

Gerichtstrasse 54 in Berlin-Wedding. Kein Schild draußen, fast wie ein Un-ort mit Tarnkappe. Wo ist es? Ich fand den Eingang zunächst nicht. Nur klitzekleines Licht drang an den Seiten des mit einem dichten braunen Vorgang verhangenen ehemaligen Schaufensters hindurch. Ich ließ, in leiser kurzer Panik, dass ich mich in der Adresse geirrt haben könnte, den Taxifahrer warten, der mich im Übrigen verunsichert hatte, weil er uns zunächst in eine Gerichtstrasse in Moabit bringen wollte. Das war doch ein ganz anderer Stadtteil, da gab es auch ein Gefängnis, soviel wusste ich auch als waschechte Nicht-Berlinerin, richtig? (Ich fragte mich, ob er dachte, dass wir vielleicht einen Häftling besuchen wollten?).

Dann sah ich das Klingelschild. Ein kleines edles, goldenes Messingschild, goldene Klingel, ganz klein, kleiner als eine Streichholzschachtel. Da stand es: „ernst“. Mit kleinem „e“. Ich war erleichtert. Der Taxifahrer auch. Wir hatten den Eingang neben der Grafitti-beschmierten Hauswand und dem links daneben erfolglos inspiziertem Haus mit etwa 25 Klingelschildern, viele handgeschrieben, teils überklebt, globale Identitäten, endlich gefunden!

So unprätentiös der „ernst-ige“ Eingang, ein schmaler dunkler, schmuckloser Flur, am Ende ein Wandschrank mit dicker edler Holztür, der unsere Jacken empfing, so zuvorkommend wurden wir von dem japanischen Sommelier begrüßt, der sich nicht mit Namen vorstellte. „Welcome“, sagte er. Hier wird nur Englisch gesprochen. Und es kam mir vor, als wären wir, ähnlich wie in einer Harry Potter-Welt oder im Film Matrix, durch eine Tür gegangen, die uns in eine neue Atmosphäre aufnahm, die überall auf der ganzen Welt hätte sein können. Amerika, Kanada, wo die Gründer-Köche herstammen, Japan, Südafrika, Australien (ein Koch kam aus Down Under). Das ernst, die goldene Klingel, die versteckt anmutende Tür, ein Portal in eine andere Welt, in eine Art Anti-These aller Restaurants dieser Welt. Ein radikales Understatement, das uns, die Gäste, die ihre Eintrittskarte vorab schon bezahlt haben, nachgerade verunsichert. Bin ich richtig hier? Nur acht „Restaurant-Reisende“ können hier im Gastraum, bestehend aus einer einzigen geraden, länglichen Theke, Platz nehmen. Der Blick der Gäste ist nicht aufeinander gerichtet, sondern in Richtung des Kochgeschehens. Eine Inszenierung, die pünktlich beginnt, die ersten Minuten vor Beginn eines Bühnenstücks, die stumme Anspannung und Konzentration unserer sechs Köche, eine Prise Lampenfieber.

Unsere zwei Plätze nahmen wir ganz hinten rechts ein. Wir waren die beiden letzten Ankömmlinge. Nun komplett, der Abend konnte beginnen. Meine Handtasche bekam auch einen Hocker. Es bringt Unglück, wenn die Handtasche auf dem Boden liegt, fiel mir ein. Dann fiel mir noch ein, dass wir vor dem Eintreten in den Gastraum noch an zwei doppelt-handtellergroßen Steinen auf einer langen leeren Holzbank vorbeigelaufen waren. Ich fragte mich, was diese beiden Steine für eine Bedeutung hatten. Meteoriten oder Lavagestein, oder archäologische Fundstücke aus Japan? Ein Stein war schwarz, der andere hell bräunlich. Yin und Yang? Männlich-Weiblich? Sie stießen fast zärtlich an einer Stelle aneinander, verbunden, in einem Arrangement, wo mir schon klar wurde, bevor ich mich auf meinen zugewiesenen Platz begab, bevor meine Handtasche 10 Zentimeter über dem Boden schweben durfte: hier ist nichts dem Zufall überlassen. Ich dachte zurück an meine Zeit des Studiums der Toyohari-Meridian-Akupunktur in Japan bei den blinden Meistern. Und die wenigen Male, wo ich mit meinem Mann in einem traditionellen Ryokan übernachtet hatte, der ultimativen Form des Es-Sich-Gut-Gehen-Lassens – und des Eintritts in die eigene Privatheit durch das Ablegen der Schuhe und der Straßenkleidung, als rituelle Handlung des Loslassens. Es hätte mich nicht gewundert, wenn wir im ernst beim Eintreten hierzu aufgefordert worden wären - was nicht geschah. Ich wäre dieser Auf-gabe, des Zurücklassens meines Alltags, des „ernstes“ des Lebens, allerdings tatsächlich gerne gefolgt.

Die Wände des ernst sind karg. Keine Bilder, grauer Waschbeton, graue Vorhänge aus edlem Leinen. Der Tisch, wie eine Bar, edles braunes Holz, bequeme Hocker, die ich nicht Barhocker nennen kann, weil es keine Bar ist, auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen könnte. Vielmehr sind es zwei Welten. Die eine Welt, acht „Reisende“ auf dem Weg zu einem vielleicht außerirdischen kulinarischen Trip. Der Tresen, die Grenze, das Grenzgebiet zur Bühne der Küche. Keinesfalls ein Show-Kochen. Eher ein Köche-Team-Event, das als solches in anderen Restaurants (ob mit oder ohne Stern, denke ich), niemals so offensichtlich sichtbar wird für den Esser. Als habe sich eine Welt aufgetan, die sich nicht scheut, sich zu zeigen, in ihrer routinierten Anspannung zur Frage, wie wohl dieser erste Teil des Abends funktionieren wird; denn wir sind nur der erste Akt heute 18:00 - 20:30 Uhr. Ab 21:15 Uhr kommen nochmal neue Genuss-Suchende. Die Crew, uniformiert in dunkelblauen Jeanshemden, schlicht, ohne Logo, fast wie Mao-Uniformen, welche zu sagen scheinen: „Wir sind hier alle gleich, wir sind ein Teil des Ganzen“. Es gibt rein äußerlich keine Hierarchien. Vielleicht inoffiziell, aber im beobachtbaren Arbeiten ist diese Mannschaft durch eines vereint: ihr Trotzen gegen die Zeit, den chaotisch strukturierten Ablauf, das Timing des Garens auf dem offenen Feuer, des vor aller Augen stattfindenden feinen Sezierens des Fisches, und später des Fleisches. Wir sitzen, Blick geradeaus, sind Teil des Geschehens, und doch draußen. Beobachter, verurteilt zum Nichtstun, wartend auf den nächsten Bissen. Erlaubt, dabei zu sein, bei dieser heutigen Operation, die da heißt, Kochen auf höchstem Niveau.

Die Klänge von „contemplation“ von McCoy Tyner lullen uns ein, helfen uns, uns langsam heimisch zu fühlen. Champagner kommt. Prickelt. Mein Mann und ich wenden uns kurz einander zu, stoßen an, auf dieses besondere Weihnachtsgeschenk, das wir uns schenken. Zeit miteinander, gemeinsam nach vorne blicken, etwas Verbindendendes tun. Nächstes Jahr sind wir zwei Dekaden miteinander verheiratet. Wir ahnen noch vor dem ersten Bissen, dass wir hier für die nächsten Stunden im richtigen Zug des Lebens sitzen. Die Fahrt nach Berlin, zum ernst, hat sich gelohnt, inklusive 1 ½ Stunden Verspätung unseres Zuges von Frankfurt nach Berlin, nur „dafür“. Verzögerung durch einen Personenunfall, ein Tag vor Weihnachten, wie könnte es auch anders sein. Wir, in dankbarer Stimmung. Dankbar. Alles ist gut, unser eingebauter zeitlicher Puffer hat die entspannte Paar-Stimmung gerettet. Wir meckern nicht und kommen nur ganz leicht angespannt, nicht genervt und ohne erhöhte Herzfrequenz, pünktlich an. Zwei Minuten nach 18:00 Uhr. Gut gemacht. Und mit den ersten feinen Reaktionen des Gaumens auf das erste geschmackliche Landen des Mikro-Gerichts, serviert auf einem unscheinbaren kleinen grauen Teller, welches die Größe einer Untertasse hat, entspannen wir uns noch mehr, sinkt unsere Herzfrequenz und steigt die gute Stimmung. Vor jedem Gang sagt uns der australische Koch, was wir essen, aber seine Worte rauschen so an meinem Ohr vorbei, wie der erstklassige Jazz in meinen Ohren. Mir wird klar, dass ich mich seit dem Eintreten durch die Tür, ganz hingeben kann. Ich erlebe Vertrauen, dass das sechs-köpfige Team, wie erwartet, alles so kocht, dass sich mein Ur-Vertrauen in das, was ein Mensch aus einem Stück frischen Nahrungsmittel direkt aus der Erde, zum Beispiel einem Stück rote Beete, machen kann, sich mit der in meiner Zungenspitze und Zungengrund verwurzelten Fähigkeit zu schmecken, tief verbinden kann. Dies wiederum lässt meine angeborene Leistungsfähigkeit zur geschmacklichen Sinneswahrnehmung zur Höchstform aufjaulen und jubeln.

Die Kalibrierung der Geschmacksnerven der Gäste  beginnt mit einer kleinen Tasse „Dashi“. Eine aus japanischem Seetang und Bonitoflocken gefertigten Brühe. Sie ist fad, ohne fad zu sein. Sie sensibilisiert, genau hinzuschmecken, mich auf das freudvoll einzustellen, was kommen wird. Dashi ist die Grundlage aller weiteren Zubereitungen. Und mir wird klar, dass der Koch, der an den verschiedenen Töpfen die Saucen zubereitet, der eigentliche Geschmacksschöpfer ist, der das Timing, die Alchemie der Verbindung und Eindickung beherrscht. Der bangen Frage, wann es gut sei. Wann die geschmackliche Essenz sich zeigen möge. Wenn Dashi das vorher Un-Schmeckbare aus dem jeweiligen Nahrungsmittel hervorbringt, wie ein Zauberer das Kaninchen aus dem Hut. Und nirgendwo eine Uhr, die tickt. Nur die angespannten Gesichter der Crew in ihren blauen Jacken, die auch an diesem Abend wieder mit und gegen die Zeit lebt. Nur durch den Tresen-Tisch getrennt von uns, und mittlerweile auch durch die schnell geleerten Sekt- und Weingläser, bewegen sich die blauen Männer in einem ganz eigenen Trance-Tanz. Laufen hin und her, schneiden, rühren, fachen das offene Feuer an, schenken ein, verteilen, immer auf nicht weniger als acht Becherlein und Tellerchen verteilt, unsere Happen. Zwergen-Portionen, die sich nur als Ganzes verstehen können, als Einzelteile. Die sich, wie ein Puzzle, welches ich in Einzelteilchen verschlucke, erst in meinem inneren Körper, zu einem großen Ganzen Wohlgefühl verbindet. Dieses entsteht in kleinen Schritten. Wie in einem Musikstück, Note für Note. Nach und nach rauschen die Bissen an mich, in mich hinein. Wie eine wilde Schlittenfahrt geht das Schmecken, bei der ich am liebsten sagen möchte: Stop! Kann ich mir bitte diesen einen Geschmacksmoment nochmal wie in einem Films zurückspulen? Und schon ist dieser Lebensaugenblick runtergeschluckt. Weg. Für immer. Nur ein kurzer Augenblick des Erstaunens, dass „so etwas“ so schmecken kann. Das Visuelle zählt nicht mehr. Hier isst das Auge nur bedingt mit. Manche Puzzle-Happen sehen glibberig-weiß-schleimig aus. Niemand außer unseren Köchen könnte sagen, was es ist. Und einmal schillert die Keramiklackierung eines Tellerchens so wunderbar, in bescheidener Konkurrenz mit dem rötlich leuchtenden Fischroggen auf unserem rohen Fischlein. Einmal will ich meinen hölzernen Löffel behalten, um auch den köstlichen letzten Sud nicht zu verschenken. Doch schon kommen die routinierten fleißigen Hände des australischen Kochs über unseren Grenzraum und räumen, flinker als ich, den Holzlöffel und das Schälchen weg. Es geht weiter im Fluss des Bekocht-Werdens. Ich muss mit, werde mitgenommen. Ein Tellerchen folgt dem nächsten. Es ist ein kollektiver Flow, eine Fütterungs-Erfahrung, eine Regression, ein Aufgeben, ein Da-Sitzen, Kosten, genießen. Ein AAAHH und OOOHH und ein kleines WEH über jede Minute, die vergeht. Je mehr Tellerchen zu uns über das Grenzgebiet gelangen, mit jedem Übergang zur feinen Süße, dem schleichenden Abschied, dem Zur Neige-Gehen unserer geschenkten Zeit hier, entspannen sich die Gesichter unserer Koch-Mannschaft, den chirurgisch-sezierenden Filettierungs-Experten, den Sud-Eindickern, den Mundschenkenden, den Tänzern auf der stillen Kochbühne, die uns nicht ausschließen, sondern teilhaben lassen an ihrem feinen geräuschlosen Handwerk. Höchster Fokus. Hände, Körper, die sich aneinander vorbeischieben. Ein jeder scheint zu wissen, was er tut. Die Frage, warum keine Frau in der Crew ist, stellt sich mir nur kurz; denn irgendwie fühle ich, dass alles so sein muss. So sein. Keine ideologische Ablenkung, keine „Gendergerechtigkeit“ findet hier einen stimmigen Zufluchtsort. Es sind junge männliche Köche, die Yin und Yang in sich vereinigen, die hier ihre Kunst darbieten. Die ihre eigene Parallelwirklichkeit leben, deren Ränder unter den Augen eine eigene Narration haben. Dass diese Arbeit vor den Augen von zahlenden essenden Zuschauern und Schmeckern einen Preis hat, Energie vertilgt. There is no free lunch, auch nicht für unsere Köche. Dass sie alle sechs jeden Abend alles von sich hergeben. Und dass, wie wir erfahren, nach der nächsten Schicht, erstmal Ferien kommen. Bestimmt lange erwartet. Und dass das ernst geschlossen sein wird, einen Monat lang. Und als Ärztin sehe ich, mit professioneller Klarheit, dass unsere Crew erschöpft funktioniert. Und ich kann es einfach nicht lassen, Menschen in meinem Umfeld mit meinem klinischen Scanner heimlich abzutasten. Eine Beobachtungs-Gewohnheit, die automatisch abläuft, mich Erschöpfung und Kranksein lesen lässt, wie in einem offenen Buch, bevor es andere bemerken.

Endspurt. Jetzt geschieht die vorletzte Show des Jahres. Ein Privileg, dem beizuwohnen. Mein persönlich wichtigster Moment an diesem Abend: Ich beobachte den „Meister der Sude“, wie ich ihn heimlich für mich nenne, „meinen“ Alchemisten, dabei, wie er einzelne Pfefferkörner aus einer Keramikschale nimmt und diese einzeln auswählt, und später kraftvoll-achtsam zerkleinert. Es ist, wie bei den indigenen Naturvölkern, fast so, als würde jedes einzelne Pfefferkorn dazu persönlich eingeladen werden mitzumachen, dabei zu sein, sich zu versammeln, die eigene Kraft zu zeigen beim Eintritt in den Gaumen, vorbei an Zunge, Geschmackspapillen, Schluckapparat, hinab in den Aufzug nach unten, der Speiseröhre, in die Dunkelheit des Magens. Ich merke, wie mir beim Probieren des mit den Pfefferkorn-Individuen gespickten Bissens plötzlich die Tränen kommen. Ich weiß nicht warum. Ich bin berührt. Ich ahne nur, dass etwas in mir versteht. Mein Körper-Ich versteht auf einer nicht-rationalen Ebene, dass alles, was hier geschieht, eine Art Nicht-Konsum ist, sondern eine Begegnung, ein Versuch, Geschmack und Geschmackserleben neu zu fühlen, zu definieren, zu de-codieren, zu vermitteln. Eine Re-Kalibrierung, hin zu dem, was es braucht, um ein Nahrungsmittel, sei es rote Beete, Chicorée, Spinat, Fisch, Austern oder kleine Oktopus-Ärmchen, so zu schmecken, wie es sich die Natur vorstellen könnte. Ein Wahrnehmen einer Transformation, hin zu der Vorstellung, wie das Kochen oder Anreichern eines Häppchens Rosenkohl, zum Beispiel, noch natürlicher schmeckt, als ich es mir, und wahrscheinlich auch der Koch, in seinen kühnsten Träumen, nicht hätte vorstellen können. Dass es wirklich funktioniert, dem Zusammenspiel von Dashi mit natürlichsten, auf einem Biobauernhof in Potsdam angebautem Gemüse und anderen hochwertigen eingereisten Zutaten aus der globalen Nahrungskette, mit Hilfe von Feuer, Eindicken, Konzentration, wenigen Gewürzen, Zitronensaft, Pfeffer und dem genauen Timing, etwas Natur-nahes zu kreieren, ohne dass dies der Plan war. Eine Intention ohne Intention. Schwarzer und weißer Stein. Radikal stimmig durch Fokus und tägliche Wiederholung, ohne Ego-Kreationen, die nach Applaus lechzen. Kein Hunger der Köche nach unmittelbaren stehenden Ovationen. Dazu scheinen sie nicht angetreten zu sein. Sondern eher, weil sie es so tun müssen? Weil ihr Leben (und auch meins) dem Rezept dieser Bühne folgen mag, reine klare Essenz und Verbindung, authentic self, zu suchen - mit der Hoffnung, dieses Selbst, ohne Verbiegungen, an manchen Tagen zu finden. Weil dies eine Lebensform sein kann, ein existentielles Lebens-Prinzip. Weil eine andere Herangehensweise zur leben und zu arbeiten (für sie, für mich) nicht funktioniert? Nie funktioniert hat? Weil ich finde, dass der Preis dieser heutigen Essens-Eintrittskarte angemessen ist. Weil es im ernst nicht um Gewinnmaximierung geht. Nicht bei acht Plätzen. Wie könnte es? Wir, die Gäste, tauschen Geld gegen die Erfahrung eines unvergesslichen, wertvollen Lebensmoments, der stark genug sein kann, allen fünf Sinnen des Gastes, (Geschmacks)-Sinn zurück zu geben.

Vielleicht wissen die Gründer-Köche gar nicht, wie ihnen geschieht, was hier geschieht. Sind selbst überrascht von ihrem Erfolg. Sind gar zu beschäftigt und erschöpft, dies noch wahrzunehmen, wie ein in kleinen Häppchen stattfindender kollektiver Mini-Burnout. Das Resultat von Hingabe und Hamsterrad. Der sogenannte Fluch des Erfolgs, der die Crew mit sich reißt. Wo keine Small-Talk-Plauderei über den Tresen stattfindet, weil nach einem Zubereiten einer Kreation, schon der nächste Mikro-Gang folgt. Sind es gar die Nahrungsmittel, die hier den Ton angeben? Rufe, wie aus hungrigen Kindermäulern: Mach was aus mir! Lass mich leuchten! Berühre mich, verarbeite mich! Aber lasse mich so, wie ich bin. Bitte! Hier im ernst, das meine ich Ernst, stehen weder der Gast, noch der Koch im Mittelpunkt, sondern die leibhaftige Erfahrung, dass alles fein schmecken kann, wenn es Achtsamkeit und Konzentration erfährt. Dass die sekundengenaue Alchemie der Essenz-Eindickung zur Meisterschaft gebracht werden kann.

Und wir, die Gäste, stehen bald wieder auf der dunklen Straße, im Regen, und fragen uns, was hier mit uns geschehen ist, in dieser anderen Welt. Werden entlassen, wie aus einer Klinik. Geheilt. Vielleicht. Die Happen müssen noch verdaut werden. Und schon kommen die nächsten Gäste, zu früh, sie müssen noch warten, und wieder klingelt es an der goldenen Klingel. Hoffen auf Einlass, das letzte welcome in diesem Jahr. Und ich frage mich, ob ich nicht doch mal wieder versuche, ein Chicorée zu kochen, den ich sehr mag. Einfach so, mal probieren, ohne Rezept, ohne Zwang, ohne Publikum. Nur eine Begegnung zwischen mir und einem Stückchen Chicorée. Und zu versuchen, wissend um mein wahrscheinliches Scheitern, dass diese Begegnung zwischen mir und „ihm oder ihr“ (wer kann das wissen), eine hoffnungsvolle Möglichkeit für das nächste Jahr sein kann.

Danke! ernst für diese neue ernsthafte Option in meinem Leben.

Auf ein Wiedersehen, hoffe ich, im nächsten Jahr.

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